Ein unbeschreibliches Gefühl
Gastbeitrag zur Ruller Wallfahrt 2024 von Heike Hüsers
Es ist wunderschönes Frühlingswetter, Ende April. Mir fällt spontan Vieles ein, was man machen könnte. Im Garten sitzen bei Kaffee und Kuchen zum Beispiel. Oder in den Mai tanzen. Oder am See picknicken. Oder, oder, oder. Warum also – die Frage ist nicht ganz unberechtigt – sollte man all die schönen Dinge nicht tun und stattdessen an zwei Tagen von Meppen nach Rulle laufen? Das sind immerhin knapp 80 Kilo-meter, Blasen an den Füßen sind vorprogrammiert, ebenso schrecklicher Muskel-kater. Ich wage mal eine Antwort.
Zunächst ein Blick in die Geschichte des Wallfahrtsortes Rulle. In unmittelbarer Nähe zu Osnabrück gelegen, bietet die Pilgerstätte gleich zwei Legenden von religiöser Bedeutung. Im 14. Jahrhundert wurden achtlos Hostien auf eine Wiese geworfen und ein paar Tage später als blutige Fleischstückchen wieder aufgefunden. Damit war das sogenannte „Blutwunder“ begründet, am Fundort wurde eine Kapelle gebaut. Ungefähr dort steht heute die Wallfahrtskirche St. Johannes. Der Marien-brunnen in direkter Nähe befindet sich auf einer Quelle, die heute noch aktiv ist. Ein blinder Hirte, so eine weitere Erzählung, entdeckte sie zufällig, bestrich sich die Augen mit dem Wasser und konnte wenig später wieder sehen. Wer sich schwertut mit Wundern dieser Art, kommt einfach nur zur Marienverehrung nach Rulle. Seit dem frühen 18. Jahrhundert steht dort ein Bild der Schmerzhaften Mutter.
Auch ich begebe mich auf diese Pilgerreise. Ich will wissen, was sie so besonders macht. Schließlich hatte meine Mutter die Wallfahrt nach Rulle mehr als 15 Mal unternommen und kam jedes Mal beseelt zurück. Ich mache mich also am 29. April morgens um 7.00 Uhr zusammen mit fast 70 Pilgerinnen und Pilgern auf den Weg. Die erfahrenen Wallfahrer finden sofort in einen Rhythmus aus Liedern, Rosen-kränzen, Litaneien und Gebeten. Ich dagegen brauche etwas. Zum Glück nimmt es mir niemand übel, dass ich mich ab und zu ausklinke, um meinen eigenen Gedanken nachzuhängen oder einfach nur den Blick über die knallgelben Rapsfelder schweifen zu lassen. Mit der Zeit aber entfalten immer mehr Texte – auch die sehr bekannten – in der Gemeinschaft der Wallfahrt eine neue Wirkung. „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ etwa, verfasst von dem bedeutenden Kirchenliederdichter Paul Gerhardt. Mich berührt die Gastfreundlichkeit, die uns auf vielen Bauernhöfen und in kleinen Gemeinden entgegengebracht wird. Liebevoll gedeckte Tische, prall gefüllte Tafeln mit Kuchen und Obst. Der Grill wird angeworfen, ein Schnäpschen für den Kreislauf gereicht.
Nach zwei langen Tagen dann endlich das Ortsschild „Rulle“. Wir werden vom Pastor und zwei Messdienerinnen empfangen, an den Straßenrändern stehen Menschen und winken uns zu. Mir wird warm ums Herz. Die Wallfahrtskirche ist in Sicht, die Glocken läuten. Wir singen ein Marienlied, als wir dort einziehen. Und dann, ganz plötzlich, an der Schwelle zur Kirche, werde ich derart überwältigt, dass es mir buch-stäblich die Sprache verschlägt. Tränen laufen mir über die Wangen. Ich würde so gerne einstimmen in „Großer Gott wir loben dich“, aber ich kann es nicht. Ein unbe-schreibliches Gefühl. Mir fallen die Worte meiner Mutter ein: „Von der Wallfahrt zehre ich immer ganz lange.“ Ich verstehe sie jetzt.
In diesem Sinne danke ich dem Ruller Wallfahrtsverein für die sehr herzliche Aufnahme. Und danke, Mama, für dieses Vermächtnis. Bis zum nächsten Jahr!